Peru und Kolumbien gelten als aufstrebende Staaten in Südamerika. Doch das Coronavirus legt die Unterschiede zwischen den beiden Ländern offen: Hier rettet das Gesundheitssystem die Kranken – dort sind die Menschen auf sich alleine gestellt.
Olinda Tanta und ihre Schwester hieven mit vereinten Kräften die grüne, mannshohe Stahlflasche über die Türschwelle und rollen sie hundert Meter die Strasse hinunter. Dort wartet das Taxi, um sie ins Hafenviertel Callao zu fahren, wo sie Sauerstoff kaufen wollen. Denn ohne Sauerstoff, das wissen sie, wird ihr Vater Eulogio an der Corona-Infektion sterben.
Johanna Sánchez versucht, nicht zu weinen. Auch ihr Vater ist schwer krank, er liegt im Nebenzimmer mit Covid-19. Sohn Nicolás ist im Erdgeschoss bei Oma und Tante. Er ist wütend. Mit anderthalb Jahren versteht er nicht, warum er seine Mama nicht mehr umarmen, sondern nur noch über diesen kleinen Bildschirm sehen darf. Das Handy, das ihm seine Oma reicht, schiebt er weg und läuft heulend davon. Und Johanna Sánchez bricht es fast das Herz.
Die beiden Frauen – Olinda Tanta und Johanna Sánchez – leben fast 2000 Kilometer voneinander entfernt. Die eine in Lima, die andere in Bogotá. Doch sie teilen ein ähnliches Schicksal: Sie müssen ihre Angehörigen pflegen, während die Corona-Pandemie übers Land fegt, müssen ihre Familien durchbringen, während sie selbst mit dem Coronavirus infiziert sind. Beide Frauen bringt dies an den Rand ihrer Kräfte – aber nur eine in eine existenzielle Notlage.
Denn Olinda Tanta und Johanna Sánchez leben in zwei Ländern, die zwar auf den ersten Blick eine ähnliche Geschichte haben, aber doch unterschiedlich funktionieren. Sowohl in Peru als auch in Kolumbien zerstört die Pandemie gerade so etwas wie einen Traum: Beide Länder glaubten, die Armut endlich abzuschütteln und an der Türschwelle zum Club der entwickelten Länder zu stehen. Stetiges Wachstum, offene Märkte, neue Hochhäuser, Autos für jedermann und Shoppingmalls überall sind die Zeichen dieses Wandels, auf den viele Leute stolz sind – in Peru wie auch in Kolumbien.
Doch das Coronavirus offenbart mit aller Brutalität, auf welch wackligem Fundament die wirtschaftlichen Erfolge stehen. Denn die Pandemie schert sich nicht um die Anzahl verkaufter Offroader oder Plasmafernseher – sie lässt sich nur dann besiegen, wenn ein Land genügend Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, Sauerstoffflaschen und Intensivmediziner für alle hat. Und da offenbaren sich zwischen Peru und Kolumbien entscheidende Gegensätze.
An den Geschichten von Olinda Tanta und Johanna Sánchez lassen sie sich aufzeigen.
1
Als sie die Haustür öffnet und ihr Vater Eulogio vor ihr steht, ist Olinda Tanta überrascht. Ihr Vater wohnt am anderen Ende von Lima, der Hauptstadt von Peru. Dort hätte er auch bleiben sollen, wenn er den Anordnungen seines Präsidenten Folge geleistet hätte. Doch der 73-Jährige hat sich gelangweilt. Seit dreissig Jahren betreibt er als Schneider einen Strassenstand in der Altstadt. Wegen des Coronavirus musste er ihn schliessen und zu Hause bleiben.
In der Quarantäne hielt es Eulogio nicht mehr aus: Er wollte unbedingt seine Töchter und seine Enkelkinder für ein paar Tage besuchen. Seit März hat er sie nicht mehr gesehen. Alle vier Töchter leben zusammen mit ihrer Mutter und ihren eigenen Kindern in einem inzwischen dreistöckigen Haus. Immer wenn ein Kind zur Welt kam, wurde ein Stockwerk draufgesetzt.
Zur Feier seines Besuchs gibt es Kuchen. Es ist der 8. Juni. Zu dem Zeitpunkt befinden sich Perus 32 Millionen Einwohnerinnen schon seit drei Monaten im Lockdown. Das Haus dürfen sie nur für notwendige Einkäufe verlassen. Schulen, Universitäten, Flughäfen, Fabriken, Einkaufszentren, Restaurants, alles ist geschlossen.
Am 15. März hatte Präsident Martín Vizcarra einen der ersten und strengsten Lockdowns Südamerikas erlassen. Ein Hilfspaket in Höhe von 12 Prozent des Bruttoinlandprodukts sollte denen helfen, die nun ohne Einkommen blieben. Die Regierung glaubte, sich das leisten zu können. Schliesslich hatte Peru in den vergangenen Jahrzehnten gut gewirtschaftet, und die Staatskassen waren gefüllt mit Einnahmen aus dem Rohstoffboom.
Umfassende Ausgangssperre plus Hilfen für die Bedürftigen plus Aufrüstung des Gesundheitswesens: Das geplante Programm von Präsident Vizcarra, um das Coronavirus in Schach zu halten, klang vernünftig. Auch für Olinda Tanta, die zweitjüngste der vier Schwestern. Gerade hatte sie angefangen, in einem Handelsgeschäft für medizinische Geräte zu arbeiten, als die staatliche Quarantäne ausgerufen wurde. Mit dem Job blieb auch das Gehalt aus. Wie die meisten Peruanerinnen glaubte auch Olinda, in ein paar Wochen wäre der ganze Spuk zu Ende.
Doch wider Erwarten schlägt das Virus im Musterland besonders stark zu. über 300’000 Corona-Infizierte zählt Peru bislang. Und auch Olinda Tanta fällt an jenem Juninachmittag auf, dass ihr Vater ungewöhnlich müde ist.
2
Als Oberschwester im staatlichen Hospital Universitario de la Samaritana in Bogotá ist Johanna Sánchez verantwortlich für das gesamte Personal der Nachtschicht. Als das Coronavirus nach Kolumbien kommt, ist sie 30 Jahre alt und hat in allen Abteilungen ihres Krankenhauses in der Hauptstadt gearbeitet. Sie weiss, wie man Intensivpatienten versorgt, und sie hat sich fortgebildet: Schutzkleidung, Abstand. Jedes Mal, wenn vom Gesundheitsministerium neue Sicherheitsprotokolle kommen, schult sie ihr Team.
Doch als ihr Vater José im Mai krank wird, verdrängt sie alles, was sie gelernt hat. Sie kann ihren eigenen Vater nicht wie einen Isolierten behandeln.
Wahrscheinlich hat sich José Sánchez an seinem Stand in Corabastos angesteckt, dem grössten Markt in Bogotá. Mit seiner Frau verkauft – er dort Früchte: Lulos, Curubas, Tamarillo-Baumtomaten, Maracujas, Guaven, Limetten, Brombeeren, Erdbeeren. Etwa 80’000 Menschen gehen hier täglich ein und aus. Aus der ganzen Region kommen Lastwagen mit Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Getreide. Marktarbeiter schleppen Kisten und Säcke durch enge Gänge, zwischen den Markthallen bieten Tagelöhner und fliegende Händlerinnen ihre Dienste und Waren an – auch in Pandemie-Zeiten.
Bürgermeisterin Claudia López hatte immer wieder betont, dass die Stadt keinen Versorgungsengpass erleiden werde. Von der nationalen Quarantäne samt Arbeitsverbot, die in Kolumbien seit dem 24. März herrscht, blieben die Märkte deshalb ausgenommen. Und so fuhren José Sánchez und seine Frau Yamile weiter jede Nacht um halb zwei Uhr nach Corabastos und kehrten gegen Mittag mit einem der kleinen Busse zurück nach Hause.
Am kolumbianischen Muttertag, dem 10. Mai, klagt José Sánchez zum ersten Mal über Gliederschmerzen. Zwei Tage später verkündet die Bürgermeisterin nach einer Sondersitzung, dass die Sicherheitsmassnahmen in Corabastos verstärkt und die Tore geschlossen werden, sobald der Grossmarkt zu einem Drittel voll ist. Im Arbeiterstadtteil Kennedy, in dem sich der Markt befindet, haben sich besonders viele Menschen mit dem Virus infiziert.
Don José hat jetzt Fieber. Seine Tochter Johanna, die Gesundheitsexpertin in der Familie, macht mit seiner Krankenkasse einen Termin aus. Doch der Arzt der Krankenkasse hält es nicht für nötig, Don José auf Corona zu testen.
Johanna Sánchez macht sich Sorgen, denn ihr Vater hat zum Fieber nun auch ständig Kopfschmerzen. Er hat Schmerzen in der Brust und tut sich beim Atmen schwer. So bringt sie ihn in die Notaufnahme ihres Krankenhauses. Sie begleitet ihn bei den Untersuchungen, spricht ihm Mut zu, reicht ihm die Wasserflasche, wenn er durstig ist, nimmt seine Hand, wenn ihn Schüttelfrost überkommt, und richtet ihn auf, damit er die Suppe besser löffeln kann. Alles mit einem einfachen Mundschutz aus Stoff.
Im Krankenhaus wird dem Vater Blut abgenommen und seine Lunge wird geröntgt. Eine Computertomografie zeigt Entzündungen in beiden Lungenflügeln. Die Ärztinnen behalten ihn auf der Intensivstation und sagen der Tochter, dass sie sich daheim vorsichtshalber isolieren solle. Am nächsten Tag hat Johanna Sánchez Gewissheit: Der Coronatest des Vaters ist positiv.
3
Drei Tage nach seiner Ankunft muss auch Olinda Tanta mit ihrem Vater in Lima zum Arzt. Eulogio hustet und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Arzt meint, es sei bloss eine Lungenentzündung. Doch die vier Töchter glauben das nicht. So packt Olindas Schwester Aurora den Vater in ein Taxi und fährt mit ihm in die Clínica Sanna, eine schicke Privatklinik im Stadtteil San Borja. Dort bekäme man schneller einen Corona-Test, hatten ihr Freunde gesagt.
Es stimmt – doch die Behandlung hat ihren Preis. 1400 Soles, rund 380 Franken, muss sie bezahlen, damit ihr Vater an eine Sauerstoffflasche angeschlossen, seine Lunge geröntgt und ihm der Abstrich genommen wird. Die Ärztin sagt, Eulogios Sauerstoff- und Blutzuckerwerte seien zu schlecht, er müsse im Krankenhaus bleiben. Dafür sind 40’000 Soles Anzahlung fällig, gut 10’000 Franken. Olindas Schwester traut ihren Ohren nicht. Das ist mehr, als sie das ganze Jahr über in der Schokoladenfabrik verdient.
So hilft sie ihrem kranken Vater erneut in ein Taxi und fährt mit ihm zum staatlichen Spital Santa Rosa. Bett und Sauerstoff gebe es nicht, wird ihr dort bescheinigt. Immerhin bekommt sie ein paar Medikamente in die Hand gedrückt. Zu Hause richten die Schwestern für ihren Vater ein Krankenzimmer ein. Enkel Adrian wird zu seinem älteren Cousin einen Stock höher geschickt, sein Opa kurzerhand ins Bett des 11-Jährigen gesteckt.
Der sonst so gesprächige Eulogio redet jetzt kaum mehr. Aber etwas liegt ihm auf dem Herzen: «Ich will nicht ins Krankenhaus.» Denn dort sind bereits fünf seiner Cousins an Covid gestorben. Auch Tochter Olinda hat Schlimmes über die staatlichen Krankenhäuser gehört: Die Über-60-Jährigen würden im Spital gar nicht mehr behandelt. Drei Tage später kommt per Handy der Bescheid, dass Eulogio Tantas Test positiv ist. In seiner schönsten Blockschrift schreibt Enkel Carlitos ein Plakat und hängt es an die Tür: «Die Mitglieder dieser Familie müssen ihre Schuhe beim Betreten mit Chlor desinfizieren.» Und gross darunter: «Vereint werden wir das Virus besiegen.»
4
In Bogotá kommt José Sánchez auf die Intensivstation. Er erhält Antibiotika. Das Pflegepersonal bringt ihn in Bauchlage und verabreicht ihm Sauerstoff. Einmal am Tag meldet sich die Ärztin bei Tochter Johanna. Zu ihrem Vater kann sie in dieser Zeit nur per Videoanruf sprechen. Der Vater wispert am dritten Tag so leise, dass sie ihn am Telefon kaum versteht. «Was, wenn das alles nicht hilft», denkt sie. «Wenn sein Körper das nicht aushält?»
Doch José erholt sich überraschend schnell. Nach zehn Tagen auf der Intensivstation darf er nach Hause – bezahlen muss er nichts.
In Kolumbien hat ausgerechnet eine liberale Reform unter Begleitung der Weltbank dazu geführt, dass mehr Bürgerinnen krankenversichert sind – heute sind es 96 Prozent. Mit der Gesundheitsreform von 1993 wurde der Grundstein für ein System gelegt, das solidarische Elemente mit staatlich geregeltem Wettbewerb vereint. Angestellte zahlen seitdem automatisch zusammen mit ihrem Arbeitgeber einen prozentualen Anteil ins System ein (régimen contributivo).
Für Leute, die nach staatlicher Einstufung als arm gelten, zahlen Staat und Gemeinden eine Kopfpauschale an die Versicherungen (régimen subsidiado). Diese Pauschale wird durch weitere Prämien ergänzt, zum Beispiel für Indigene oder Menschen, die in dünn besiedelten Gebieten leben. So verdienen die Krankenkassen unter Umständen genauso viel mit «Sozialfällen» wie mit den regulär Versicherten.
Seit einem Verfassungsgerichtsurteil von 2009 müssten die Leistungen für Versicherte beider Beitragsschemata theoretisch sogar exakt gleich sein. Das kommt die öffentliche Hand teuer zu stehen, weil der Anteil der staatlich Bezuschussten, die die Hälfte aller Versicherten ausmachen, weiter steigt. Ob das System auf die Länge finanzierbar ist, wird von manchen bezweifelt.
Doch das Gute ist: In Kolumbien wird niemand finanziell ruiniert, weil er eine medizinische Behandlung braucht. So kann es sein, dass Arme und reguläre Beitragszahler in derselben Privatklinik versorgt werden. Und in Notfällen müssen kolumbianische Krankenhäuser alle Menschen behandeln – selbst die 4 Prozent der 50 Millionen Kolumbianerinnen ohne Versicherung. Das Geld holen sie sich vom Staat oder von der Krankenversicherung zurück. Für Behandlungstermine und Medikamente wird ein geringer, eher symbolischer Beitrag fällig (copago). Er dient vor allem dazu, dass Versicherte ihre gebuchten Termine nicht verfallen lassen.
Während der Corona-Krise hat sich gezeigt: Das kolumbianische System funktioniert im Grossen und Ganzen.
5
Anders als in Peru. Wenige Wochen nach Ausrufung des Notstands ist klar, dass die Spitäler dem Ansturm nicht gewachsen sind. Die Quarantäne greift nicht wie geplant. 70 Prozent der Menschen arbeiten informell und ohne soziale Absicherung: Viele leben von ihren Tageseinnahmen und können es sich nicht leisten, wochenlang zu Hause zu bleiben. In Kolumbien sind es weniger als 50 Prozent.
Ausgerechnet die Hilfeleistungen erweisen sich in Peru als Bumerang: Während diese in Kolumbien mithilfe von Apps, Überweisungen und bar in Banken und in Sofort-Geldtransfer-Büros verteilt werden, müssen sich die Peruaner die Hilfsleistung persönlich am Bankschalter abholen. In den Armenvierteln stehen Menschen stundenlang vor den wenigen Filialen Schlange – und stecken sich so mit dem Virus an.
Vor allem aber bringt das Coronavirus ans Licht, wie schlecht es um das peruanische Gesundheitswesen steht. «Hier gibt es einen stillschweigenden Pakt, dass die staatlichen Spitäler nur für die Armen da sind, dass sie hässlich und schmutzig sind und nur das Allernötigste anbieten», sagt Camila Gianella, Sozialpsychologin der Katholischen Universität von Peru. Sie hat diverse Gesundheitssysteme in Lateinamerika untersucht. Jenes von Peru schneidet mit am schlechtesten ab. Staatliche Gesundheitsleistungen würden hier als Almosen verstanden – und Almosen könne man nicht als Recht einfordern.
Öffentliche Gesundheit als Armenfürsorge: Das klingt nach 19. Jahrhundert, nicht nach einem modernen Staat. Aber es kommt noch schlimmer. Das alte, nie reformierte Gesundheitssystem trifft in Peru auf das neoliberale Gedankengut, das seit drei Jahrzehnten das Land prägt. In den 1990er-Jahren privatisierte Präsident Alberto Fujimori auf Teufel komm raus. Fast alle Ärztinnen arbeiten seither sowohl in einem staatlichen Krankenhaus als auch in einer Privatklinik. Das fördert die Korruption: Es ist gang und gäbe, dass der Arzt im staatlichen Krankenhaus seine Patientinnen zur Diagnostik in die private Klinik eine Strasse weiterschickt – die ihm selbst oder einer Kollegin gehört.
«Die staatlichen Spitäler sind dafür da, dass die Ärzte ihr Handwerk lernen – und die privaten, damit sie Geld verdienen», sagt Patricia García ernüchtert. Sie war von 2016 bis 2017 peruanische Gesundheitsministerin und hat wie so viele ihrer Vorgänger vergeblich versucht, das System zu reformieren.
Die Gesundheitsindustrie ist inzwischen ein lukratives Investitionsobjekt für Konzerne geworden. Die Clínica Sanna, in der die Tanta-Schwestern ihren Vater zuerst unterbringen wollten, gehört einer der grossen Krankenversicherungen. Und die wiederum ist Teil einer Holding, zu der der grösste Lebensmittelproduzent und eine der grössten Banken Perus gehören.
6
Familie Sánchez in Bogotá hat Glück – nicht nur mit dem Gesundheitssystem, sondern auch privat: In ihrem zweigeschossigen Haus in dem ruhigen Wohnviertel Santa Isabel ist genügend Platz, es gibt mehrere Badezimmer. Die Familie lebt dort zu fünft.
Johanna isoliert sich die erste Woche mit ihrem Vater im ersten Stock. Sie hat als Einzige mit ihm Kontakt, bringt ihm das Essen, misst seine Temperatur und seinen Sauerstoffgehalt. Bis sie ihr eigenes Testergebnis zurückbekommt – positiv. «Mach dir keine Sorgen, Papa, von zehn Infizierten haben acht keine Symptome», sagt sie ihrem Vater, der sich Vorwürfe macht, sie angesteckt zu haben. «Ich werde zu den acht gehören.»
Ein Tisch im Flur markiert jetzt die Grenze. Auf ihn stellt die Mutter das Essen für Mann und Tochter – alles auf Einweggeschirr, das nach Gebrauch in eigens beschriftete Müllsäcke geworfen wird. Alle tragen Mundschutz. Vater José ist immer noch schwach. Er kann nicht schlafen, verbringt die Zeit mit Fernsehen, nimmt sechs Kilo ab.
Währenddessen erledigt die Mutter den Haushalt und hütet den kleinen Nicolás. Ihre Schwester besorgt die Einkäufe. Manchmal bringen Verwandte Lebensmittel vorbei und stellen sie durch die Gitterstäbe in den Hof. Aus dem Nichts tauchen Onkel auf: «Einer brachte Eier, der andere Schweinefleisch, der dritte Hühnchen, der vierte Linsen, Bohnen, Reis, Öl, Milch, sogar Süsses für mein Baby», erzählt Johanna.
Trotz guter Gesundheitsversorgung wird es für die Familie eng. Johanna Sánchez hat den Lohn für die ersten beiden Maiwochen noch bekommen, doch das restliche Krankentaggeld wird sie auch Mitte Juli noch nicht auf dem Konto haben. Ihre Eltern haben als Selbstständige überhaupt keine Absicherung. Zähe Telefonate und Mails mit der Krankenkasse sind nötig, um einen Test für ihre Mutter, ihre Schwester und ihren Sohn zu erhalten.
Als Johannas Mutter Halsschmerzen bekommt, fährt sie kurzerhand mit ihr in ihre Klinik. Vier Tage später ist klar: Auch die Mutter hat sich infiziert. Doch beide Frauen haben Glück: Bis auf ein bis zwei Tage, die sich wie eine heftige Grippe anfühlen, geht Covid-19 beschwerdefrei an ihnen vorüber.
7
«Oxígeno industrial y medicinal» steht in grossen Lettern über dem Haus in der Nähe des Flughafens von Lima: technischer und medizinischer Sauerstoff. Daneben lädt eine evangelische Freikirche zum Gottesdienst, ein Haus weiter prangt das Schild eines Fitnessstudios. Beide sind geschlossen. Nur vor dem Haus mit dem Sauerstoffschild herrscht grosser Andrang: Rund hundert Menschen, alle mit Mundschutz, stehen seit Stunden hier und warten. Sie alle haben Covid-Patienten zu Hause, die Sauerstoff brauchen.
Olinda Tanta hat ihre leere Sauerstoffflasche aus dem Auto gehoben und an die Wand gelehnt, in eine Reihe mit anderen Flaschen. Der Sauerstoff ist für ihren Vater. Doch auch sie selbst ist geschwächt. Zusammen mit ihren drei Schwestern hat auch sie das Coronavirus erwischt.
Erfreulich: Die Symptome sind weniger stark als beim Vater. «Ich bekam Herzrasen und meine Krampfadern taten mir weh, keine Ahnung, was die mit Covid zu tun haben», sagt Olinda und lacht dabei schon wieder. Sie hätte sich auch nicht einfach ins Bett legen können. Denn jemand aus der Familie muss jeden Tag den Sauerstoff für den schwerkranken Vater besorgen.
Keine einfache Aufgabe, Sauerstoff ist in Peru knapp. Und teuer: Zuerst mussten Olinda und ihre Schwestern umgerechnet rund 1000 Franken nur für die leere Flasche bezahlen. Dazu kommt das Honorar der Ärztin, die jeden zweiten Tag nach dem Vater schaut und den Schwestern gezeigt hat, wie der Sauerstoff angeschlossen und reguliert wird. Ein Covid-Patient mit grosser Atemnot verbraucht bis zu zwei Sauerstoffflaschen am Tag. Das macht 80 Franken pro Tag – und über einen Zeitraum von zwei Wochen gut und gerne 1000 Franken. Das ist das Dreifache eines monatlichen Mindestlohns in Peru.
Damit ihr Vater weiter Luft bekommt, müssen Olinda und ihre Schwestern einen Teil ihrer Altersvorsorge auflösen und bei der Bank Schulden machen.
Sauerstoff gehört eigentlich zur Grundversorgung eines Krankenhauses. Doch in Peru sterben Corona-Patientinnen, weil sie das Gas nicht rechtzeitig oder nicht in genügender Menge bekommen. Durch die Corona-Pandemie ist die Nachfrage drei- bis fünfmal so hoch wie vorher. Bereits Ende April warnte die staatliche Ombudsstelle davor, dass dem Land der Sauerstoff ausgehe. Grund dafür sei die fehlende staatliche Planung und die Tatsache, dass ein Kartell von zwei internationalen Firmen sich den Markt aufteilt. 80 Prozent des medizinischen Sauerstoffs für die staatlichen Spitäler werden von einem Unternehmen der ehemals deutschen Linde Group geliefert, 20 Prozent vom US-Konkurrenten Air Products. Beide Firmen stellen wesentlich mehr Sauerstoff für den industriellen Gebrauch her als für die Krankenhäuser.
Die peruanische Kartellbehörde Indecopi hat die beiden Unternehmen bereits vor sieben Jahren zu einer Strafe von umgerechnet 6 Millionen Franken verurteilt. Der Oberste Gerichtshof hat dieses Urteil erst im Juni 2020 endgültig bestätigt. Die peruanische Regierung hat zwar per Dekret verkündet, medizinischer Sauerstoff solle Vorrang vor industriellem haben. «Aber bis heute wissen wir nicht einmal, wie viel Sauerstoff die beiden grossen Firmen für die Industrie und wie viel für die Krankenhäuser produzieren», sagt Alicia Abanto von der staatlichen Ombudsstelle. «Wir wissen auch nicht, zu welchem Preis sie den Sauerstoff verkaufen.»
8
In Kolumbien kämpfen die Sánchez’ zunehmend mit Lagerkoller. Doch erst, wenn alle negativ getestet werden, wollen sie wieder aus dem Haus gehen.
Deshalb will Johanna Sánchez nun endlich wissen, ob neben ihrer Mutter noch jemand aus ihrer Familie infiziert ist. Aber die Krankenkasse meldet sich nicht. Nach zehn Tagen hätten die Ergebnisse spätestens da sein müssen, teils sind schon zwanzig Tage vergangen. Und längst wären weitere Tests fällig. Nach Stunden in Warteschleifen am Telefon legt sie Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde ein. Wenige Tage später erhält sie das Ergebnis, das angeblich schon wochenlang vorlag: Ihr Sohn und ihre jüngere Schwester sind negativ; ihr Vater immer noch positiv.
Den Mundschutz legen die Sánchez daheim immer noch nicht ab. Aber Baby Nicolás hat endlich tagsüber seine Mama wieder – und lässt sie kaum mehr los. «Dieses Kerlchen war für uns alle der Antrieb, uns zusammenzureissen und weiterzukämpfen», sagt Johanna Sánchez. Bis Mitte Juli hat nur sie die Bestätigung per Molekulartest, dass sie offiziell wieder gesund ist. Vater, Mutter und alle anderen Familienmitglieder harren weiter im Ungewissen.
Zumindest wird die Familie wegen Corona nicht arm. Die Erkrankung hat sie nur 360’000 Pesos gekostet, gut 90 Franken: für das Antibiotikum, weil die Krankenkasse es nach der Spitalentlassung zu spät bewilligte, da angeblich immer etwas im Antrag fehlte; für die Antikörpertests der Eltern, die Johanna zusätzlich machen liess; und für das Pulsoxymeter zum Messen des Sauerstoffs im Blut von Vater José. Alles andere zahlt die Krankenkasse.
Auch den Sauerstoff: Kolumbiens Krankenhäuser haben besser vorgesorgt. Manche von ihnen produzieren das Gas selbst, und im Land gibt es zehn Fabriken, die alle in der Nähe von Grossstädten liegen. Das einzige Problem ist, den Sauerstoff in die abgelegenen Regionen zu bringen. Gastanks dürfen eigentlich aus Sicherheitsgründen nicht per Flugzeug transportiert werden – doch ohne Flugzeug kann etwa das entlegene Amazonas-Gebiet nicht erreicht werden.
9
Lateinamerika ist zu einem Hotspot der Pandemie geworden. In Peru ist die Infektionskurve nach über drei Monaten Lockdown endlich abgeflacht. Der Stillstand war eine Katastrophe. Millionen haben ihre Arbeit verloren. Seit Juli ist deshalb wirtschaftliche Reaktivierung angesagt: Immer mehr Geschäfte und Betriebe haben wieder geöffnet; Reisen innerhalb des Landes sind möglich. Doch Epidemiologinnen befürchten, dass die wirtschaftliche Öffnung zu früh kommt und die Infektionszahlen erneut ansteigen.
Trotz des besseren Gesundheitssystems hat Kolumbien bei der Toten- und Infiziertenstatistik massiv aufgeholt. Die Spitze soll Ende August kommen. Vor allem an der Karibikküste explodieren die Zahlen: Barranquilla, die Hauptstadt der Region Atlántico, hat das siebenmal so grosse Bogotá bei den Todeszahlen fast eingeholt. Zusammensein mit Freunden und Familie ist gerade in der Karibik ein Teil des Alltags, der sich nur schwer unterdrücken lässt. Die zunehmende Öffnung der Wirtschaft im ganzen Land tut das Ihre.
Die Pandemie hat am Selbstbild der beiden Länder gekratzt. Kolumbien und Peru sind doch nicht die zwei «Tigerstaaten», die Länder auf dem Weg zum wirtschaftlich erfolgreichen Industriestaat, die sie gerne sein würden.
Und sie hat die Stärken und Schwächen der beiden Länder offengelegt. Dabei schneidet Kolumbien mit seinem reformierten Gesundheitssystem eindeutig besser ab. Doch wer sich nicht wie Johanna Sánchez gut im Versicherungsdschungel auskennt und seine Rechte einfordern kann, bleibt womöglich auf der Strecke. Menschen in den abgelegenen Gebieten des Landes sowieso.
Peru hat als neoliberales Versuchslabor die Quittung für die Versäumnisse der letzten drei Jahrzehnte bekommen: ein solidarisches und gutes Gesundheitswesen aufzubauen für alle Bürgerinnen, egal ob reich oder arm. Aus dieser abschreckenden Erfahrung könnten auch andere Länder etwas lernen. «Wenn wir die Chance jetzt nicht ergreifen und das System nicht ändern, dann haben wir verloren», sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Camila Gianella. «Irgendetwas Gutes muss doch aus diesem Unglück entstehen.»
10
Die Sonne dringt durch den Winternebel und scheint auf den kleinen Park vor dem Haus der Tantas. Vater, Tochter und Enkelkind sitzen auf einer Bank. Im Haus versprüht währenddessen ein Desinfektor seine Chemikalien und tötet auch das letzte Virus ab. Eulogio Tanta ist über den Berg, ist fast schon wieder der Alte. Seine Töchter sind um mindestens 3000 Franken ärmer.
Olinda, die fürs Kochen zuständig war, ist überzeugt, dass ihre andine Hausmannskost mit viel Quinoa, Kartoffeln und der Inkanuss Sacha Inchi ihren Vater gesund gemacht hat. Sie hofft, dass sie bald wieder arbeiten kann. Ob das Virus auch etwas Gutes gehabt habe? Bedächtig sagt sie: «Wenn eine Familie zusammenhält, kann sie ihre Liebsten auch von Covid heilen.»
Die Familienmitglieder in den Arm nehmen – davon träumt auch Johanna Sánchez in Bogotá. Sie arbeitet seit kurzem wieder Nachtschicht im Krankenhaus. Die Garage hat sie zur Sicherheitsschleuse mit Wassereimer, Seife und Desinfektionsmittel aufgerüstet, wo sie ihre Kleidung lässt und sich duscht, bevor sie ihre Familie begrüsst. Johanna will nicht das Risiko eingehen, auch noch ihre Schwester und ihren Sohn mit dem Coronavirus anzustecken. «Ich glaube, wir werden als bessere Menschen aus dieser Quarantäne hervorgehen, uns nicht mehr wegen Blödsinn streiten und dankbarer sein für die Zeit, die wir miteinander verbringen dürfen.»