Wirtschaftskrise, politische Unruhen und jetzt auch noch Corona: Venezuela steht am Rand des Kollaps. Eine Zuflucht und ein Hort der Solidarität für viele sind die Kirchen. Doch die Kirchenbänke sind leerer geworden: Denn wer kann, verlässt das Land.
Wenn Pater Gustavo Perez in seiner Vorortgemeinde im venezolanischen Barquisimeto zum Friedensgruß aufruft, ist die Freude groß. Die mehreren Hundert Menschen in dem einfachen Backsteingebäude erheben sich von ihren Plastikstühlen und umarmen sich. Viele von ihnen haben trotz der sengenden Sonne lange Fußmärsche auf sich genommen, um an der Messe teilnehmen zu können. Ein Auto haben die wenigsten, und Busse fahren so gut wie keine mehr. Benzin ist im Erdölförderland Venezuela zwar fast kostenlos, aber daran zu kommen, ist umso schwerer. Dennoch spürt man im Gottesdienst auf den ersten Blick wenig von der großen wirtschaftlichen Krise, in der die Venezolaner seit Jahren leben.
„Der Dienst am Nächsten ist die Stärke von uns Christen“, sagt Pastora Alvarez de Cruz. „Wenn wir nur zu Hause sitzen und jammerten, wie schrecklich alles ist, wäre es noch schlimmer. Gott ruft uns dazu auf, dass wir den Menschen wieder Würde geben. Er hat uns nicht geschaffen, damit wir in der Misere leben, sondern damit wir das Wohl aller Menschen suchen, die Gerechtigkeit für alle. Das treibt uns an.“
Statt der sozialistischen Revolution kam der Dollar
Pastora Alvarez de Cruz ist eine lebhafte 60 Jahre alte Dame mit schulterlangen blond gefärbten Haaren, gekleidet in Jeans und weißer Bluse. Nach der Messe nimmt die ehrenamtliche Katechetin der Vicaria Maria Reina de Todos los Santos kein Blatt vor dem Mund und sagt, was sie über die Ungerechtigkeiten in Venezuela denkt.
Seit ein paar Monaten gibt es in Venezuela wieder vieles zu kaufen – für den, der US-Dollar hat. Von wegen neuer Aufbruch. Pastora Alvarez findet, es sei nur noch schlimmer:
„Das ist nur eine Art Fassade, den Leuten geht es weiterhin schlecht. Wir erhalten unseren Lohn in der einheimischen Währung Bolivares, oder in Petro, den sie auch nie zu Gesicht bekommen. Das ist nur Schein… Denn für alles brauchst du Dollar. Ganz heimlich wurde der Dollar als Währung eingeführt, und wir bekommen keine, obwohl man für jeden Karton Eier, für jedes Lebensmittel Dollar braucht.“
Ein Land am Rand des Kollaps
Die große sozialistische Revolution des 21. Jahrhunderts sollte es werden, hatte Venezuelas 2013 verstorbener Präsident Hugo Chavez noch vor 15 Jahren verkündet. Zuerst glaubten viele den Versprechungen des charismatischen Präsidenten, vor allem die Armen Venezuelas. Aber spätestens als der Erdölpreis fiel, begann das venezolanische Paradies zu bröckeln. Unter Chavez‘ Nachfolger Nicolas Maduro geriet Venezuela in die Hyperinflation und die Wirtschaft endgültig an den Rand des Kollaps. Seit 2016 leiden die Venezolaner Hunger, über vier Millionen Menschen sind in den letzten fünf Jahren ins Ausland geflohen.
„Die Direktorin unserer Grundschule hat es mir selber gesagt, es findet nur drei Mal pro Woche von 8 bis 10 Uhr Unterricht statt. Manchmal gibt es kein Wasser. Und das Gehalt eines Lehrers ist, ich kann nur sagen, unmenschlich. Sie verdienen so wenig, ein paar Dollar pro Monat, dass ich nicht weiß, wie sie damit zurechtkommen“, sagt der großgewachsene schlaksige Pfarrer, dem man seine 67 Jahre nicht ansieht. Ohne die Überweisungen der ins Ausland gegangenen Venezolaner würden die Menschen in seiner Gemeinde nicht überleben, fügt er hinzu.“
In seiner Gemeinde hat Pfarrer Gustavo mehrere Kinderspeisungen eingerichtet. Über 500 Kinder erhalten hier täglich eine Mahlzeit. Ohne diese würden viele nicht durchkommen.
Die Kirche kümmert sich um die Schwächsten
200 Kilometer weiter östlich, in der Stadt Valencia, sorgt sich auch Pastor Gerardo Hands von der Lutherischen Gemeinde darum, dass seine Gemeindemitglieder und die Kinder der zur Gemeinde gehörenden Schule genügend zu essen haben. Und dies, obwohl seine Gemeinde inmitten einer wohlhabend anmutenden Hochhaussiedlung liegt.
„Seit 2017 erhalten wir Lebensmittelspenden, die wir an Gemeindemitglieder weitergeben, die mit den eigenen Mitteln nicht mehr zurechtkommen“, sagt der 65-jährige Pastor mit dem grauen Spitzbart. Gerardo Hands ist nicht nur Pastor der Gemeinde in Valencia, sondern auch Bischof aller Lutheraner in Venezuela.“
Vor 20 Jahren noch gehörte seine Gemeinde der oberen Mittelschicht an. Heute sind von früher 450 Familien noch 80 Personen übrig. Die meisten haben Venezuela verlassen.
Für Pastor Hands bedeutet dies, dass er sich als Seelsorger heute um die Zurückgebliebenen kümmern muss:
„Wir haben heute eine Seelsorge der Migration. Unser Zauberwort ist Schutz bieten, begleiten, emotional und spirituell die Leere füllen. Es ist schwierig, wenn eine Familie zerbricht. Manchmal bleibt die Mutter mit den Kindern zurück, oder die Mutter geht auch, die Kinder bleiben bei den Großeltern oder Verwandten. Das ist ein Risiko für die Kinder, die ohne ihre Eltern und ohne Familie aufwachsen. Ein sehr schwieriges Thema.“
Früher das wohlhabendste Land Südamerikas
Während Pastor Hands erzählt, fällt zweimal der Strom aus – eine alltägliche Erfahrung für alle Venezolaner. Kaum ein Tag ohne Stromausfall und es gibt wohl keinen Haushalt in ganz Venezuela, der 24 Stunden am Tag fließendes Wasser hat.
Dabei galt Venezuela früher als das wohlhabendste Land Südamerikas. Aber auch als ein Land der großen Unterschiede zwischen Arm und Reich.
Soziale Gerechtigkeit ist auch Pastor Hands ein großes Anliegen. Woran ist seiner Meinung nach Chavez mit seiner Revolution gescheitert?
„Anstatt die Menschen zu Arbeit und Studium anzuleiten, hat der Chavismus einfach die Abhängigkeit vom Staat und seinen Erdöleinnahmen weitergeführt. Diese Rentenökonomie hat Venezuela seit Jahrzehnten ausgehöhlt. Die Chavistas haben dieses System kopiert, und nur die Akteure haben gewechselt.“
Trotz der wenigen Gemeindemitglieder weiß Pastor Hands, dass sein Platz in Venezuela ist:
„Ich bin dennoch optimistisch, mein Leben soll für den Dienst am Nächsten da sein, damit jemand wachsen kann. Das Beste, was man tun kann, ist, dass wir einen Ort mit seinen Personen besser hinterlassen, als wir ihn vorgefunden haben.“
„Erzählen und genesen“ – Schreiben als Therapie
Die lutherische Gemeinde in Valencia mag nur noch wenige Mitglieder haben. Darunter aber sind so engagierte und positiv gestimmte wie Judith Bracho. Die 42-jährige Mutter einer elf-jährigen Tochter ist in der Diakonie und der Frauenarbeit der Gemeinde tätig. Hauptberuflich arbeitet sie als freie Personalerin. Die meisten ihrer Kunden hätten in den letzten Jahren ihre Betriebe schließen müssen, sagt sie.
Aber Judith mit ihren langen schwarzen Haaren und dem ausdruckstarken Gesicht ist keine, die aufgibt. Begeistert erzählt sie von ihrem neuen Projekt in der Gemeinde:
„Unser Projekt heißt: erzählen und genesen. Wir helfen den Menschen, sich mit Schreiben auszudrücken. Da geht es um dreierlei: zum einen seine Geschichte erzählen, etwas rauslassen können, was wir erleben. Dann hat es einen therapeutischen Effekt und schließlich wollen wir damit auch anklagen, damit wir Zeugnis ablegen, von dem, was wir hier durchmachen.“
Dabei denkt Judith an Geschichten, wie sie sie selbst vor kurzem erlebt hat. Ihre 11-jährige Tochter musste mit einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus. Die Erfahrung hat sie tief geprägt.
„Von 14 Tagen, an denen meine Tochter im Krankenhaus war, gab es an fünf Tagen Wasser. Nicht fließendes Wasser, sondern eine große Plastiktonne, aus der man Wasser schöpfen konnte. Das war die einzige Möglichkeit, das Klo zu spülen oder sich die Hände zu waschen. Du kannst dir die Qualität dieses Wassers vorstellen.“
„Mein Platz ist hier in Venezuela“
Judiths Tochter ist genesen. Aber das Trauma bleibt.
„Wir werden einen Preis zahlen müssen, dafür dass wir in diesen Umständen leben. Der Stress, das schlechte Essen, das schlechte Wasser, all das wird nicht spurlos an uns vorbeigehen. Aber vielleicht bin ich zu diesem Opfer bereit, denn ich fühle, dass mein Platz hier in Venezuela ist.“
Am Morgen unseres Gesprächs hat die venezolanische Regierung die ersten Coronainfizierten gemeldet.
„Ich mache mir große Sorgen wegen der Epidemie. Dass sie stark zuschlägt bei unserer schlecht ernährten Bevölkerung, und ohne Wasser im Haus“.
Die Sorge scheint die venezolanische Regierung zu teilen. Einen Tag später, am 15. März, hat sie drastische Ausgangssperren verhängt. Gottesdienste und jegliche Art von Zusammenkünften sind seitdem verboten.
Aus Valencia schrieb Judith Bracho am vergangenen Donnerstag per Whatsapp:
„Innerhalb des letzten Monats ist der Dollar um fast die Hälfte gestiegen und damit auch die Preise. Heute bin ich einkaufen gegangen. Ich versuche, nur einmal pro Woche zu gehen. Das Geld ist mir zwischen den Fingern zerronnen. Und seit zwei Wochen gibt es kein Benzin, gar nichts. Der Strom fällt immer häufiger aus. Gestern kam die Lehrerin meiner Tochter und hat um Essen gebeten. In der Gemeinde haben wir dank einer Spende aus Chile noch Lebensmittel und teilen diese sehr gut ein.“
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